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Vernunft – Herz – Wille

Aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen er sich bewußt ist, oder was macht die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen aus? Die Vernunft, der Wille, das Herz. Zu einem vollkommenen Menschen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens. Die Kraft des Denkens ist das Licht der Erkenntnis, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und der Zweck seines Daseins. Der Mensch ist, um zu erkennen, um zu lieben, um zu wollen. Aber was ist der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe. Des Willens? die Willensfreiheit. Wir erkennen, um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d.h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes, liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen, göttlich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille. Vernunft (Einbildungskraft, Phantasie, Vorstellung, Meinung), Wille, Liebe oder Herz sind keine Kräfte, welche der Mensch hat – denn er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie –, sie sind als die sein Wesen, welches er weder hat noch macht, begründenden Elemente, die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächtegöttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann.

[Ludwig Feuerbach in „Das Wesen des Christentums“, Band 2, Berlin, 1956 via zeno.org]

fromm und frech

Es singen und klingen die Wellen

Des Frühlings wohl über mir;

Und seh ich so kecke Gesellen,

Die Tränen im Auge mir schwellen –

Ach Gott, führ uns liebreich zu Dir!

Nicht alle Romantiker hatten dieses fast kindliche Gottvertrauen. Das ist das Besondere bei Eichendorff. Mit seinem Gott ist er seit der Kindheit bekannt geblieben, er ist der Gott seiner heimatlichen Wälder, kein Gott der Spekulation und Philosophie. Es ist ein Gott, den man nicht zu erfinden braucht, man kann ihn wiederfinden, wenn man den Träumen seiner Kindheit die Treue hält. Unter dem Schutz dieses Gottes kann man fromm sein und frech, voller Heimweh und Fernweh, zugleich entfesselt und gebunden; vielleicht entfesselt, weil gebunden. So war es bei Eichendorff.

[Rüdiger Safranski in „Romantik. Eine deutsche Affäre“, München, 2007, S. 212/213 – die Strophe des Gedichts stammt von Joseph von Eichendorffs „Frühlingsfahrt„]

 

Die Stachelschwein-Parabel

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“

[Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Berlin, 1851, S. 524/525]

damals … heute

„Das Menschchen ist ein veränderlich Ding, das ist schon eine sehr alte Sage. – Noch vor einigen Jahren, wie konnt‘ ich da den Tag nicht erwarten, wenn eine Reise ausgemacht war, wie konnt‘ ich mehrere Nächte nicht schlafen, wie horcht‘ ich, wenn der Wagen herbeirollte, mein Herz klopfte, mir war, als müßte mich die ganze Stadt beneiden, – und jetzt bin ich gegen diese, sonst meine größte Freude so kalt. Ich erwarte ganz gelassen die Stunde der Abreise, ganz trocken überlasse ich mich der Zeit, wie sie mich von einem orte zum andern bringen will, so sehr entzückt mich keine Gegend mehr, als in meiner Kindheit, die schönsten Blüthen der Phantasie sind bei mir schon lange abgefallen.“

Ludwig Tieck 1793 in einem Brief an seinen Freund August Ferdinand Bernhardi und seine Schwester Sophie Tieck

[in Wackenroder, Wilhelm Heinrich; hg. von Littlejohns, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Heidelberg, 1991, S. 260]

„Schatzkammer der Erfindungen“

„Das Gedächtnis ist ein sensibles Instrument, und seine Leistungen sind schwer zu interpretieren. Wir leben in einem Geflecht von alten und neuen Erfahrungen, das unsere heutigen Haltungen und Bewertungen bestimmt. Wir erinnern uns zwar nicht immer genau, sind aber dennoch ohne aufgetürmte und sich überlagernde Erfahrungen nicht nur ohne Vergangenheit, sondern vermutlich auch ohne Orientierung in der Gegenwart, ohne Fähigkeit der Zuordnung, ohne emotionale Empathien und Zuwendungen. Wir sprechen also trotz mangelnder genauer Erinnerungen von einem Gedächtnis oder sogar von kollektiven Mentalitäten in ganzen Gesellschaften.“

[Alexander von Plato in „Erfahrungsgeschichte. Erfahrungsgeschichte als Konzept“, Kurseinheit 1 – 03517-4-01, FernUniversität Hagen, 2012, S. 52]

t.o.d

„Obwohl unzugänglich für das Bewußtsein (oder gewissermaßen nur sprachlich zugänglich) unterliegen auch Todesvorstellungen sozialer Formung. Der historisch neuartige Individualismus zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert auch in den gesellschaftstypischen Einstellungen zum Tode ab. Der Tod wird privatisiert, was dann wieder erfordert, Tod im öffentlichen Interesse, besonders Kriegstod, mit einer besonderen Sinngebung zu versehen. Zugleich wird das Individuum aber auch – allein schon durch die Konspiration des Schweigens der Ärzte – von seinem Tod abgelenkt; und selbst wenn dies nicht gelingt, wird ihm zugemutet, darüber nicht zu kommunizieren, entsprechende Versuche werden als peinlich empfunden und finden wenig Resonanz.

Die Theorie der bewußtseinsbasierten Autopoiesis reformuliert nur diese bekannten Sachverhalte. Sie postuliert ein eigentümliches Umkehrverhältnis zwischen Individualisierung und Todessemantik: Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben nach dem Tod vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins. Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg.“

[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 375/376]

Grenzerhaltung = Systemerhaltung

„Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung.

Grenzen markieren dabei keinen Abbruch von Zusammenhängen. Man kann auch nicht generell behaupten, daß die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, daß grenzüberschreitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informationsaustausches) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwertbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden. Dies bedeutet zugleich, daß die Kontingenzen des Prozeßverlaufs, die Offenheiten für andere Möglichkeiten, variieren, je nachdem, ob er für das System im System oder in seiner Umwelt abläuft. Nur soweit dies der Fall ist, bestehen Grenzen, bestehen Systeme.

[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 35/36]