Archiv der Kategorie: 19. Jahrhundert

reality is what you make of it

„»Die Welt ist meine Vorstellung:« – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung daist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.[…]

Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für die Erkenntniß daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.“

[Arthur Schopenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 1, Zürich 1977, via zeno.org]

verstehen = nicht-verstehen

„Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andre, und die noch so kleine  Verschiedenheit zittert, wenn man die Sprache mit dem beweglichsten aller Elemente vergleichen will, durch die ganze Sprache fort. Bei jedem Denken und Empfinden kehrt, vermöge der Einerleiheit der Individualität, dieselbe Verschiedenheit zurück, und bildet eine Masse aus einzeln Unbemerkbarem. Alles Vestehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, eine Wahrheit, die man auch im praktischen Leben trefflich benutzen kann, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.“

[Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus in „Schriften zur Sprachphilosophie, Werke in fünf Bänden, Bd. 3, hg. A. Filtner, K.Giel, Darmstadt, 1996, S. 228]

hinter den Kulissen

„Was ist das für eine überwältigende Macht! Schauen Sie sich dieses Leben an: die Unverfrorenheit und der Müßiggang der Schwachen, ringsum eine unmögliche Armut, Bedrängtheit, Entartung, Trunksucht, Heuchelei, Lügensucht… Dabei herrscht in allen Häusern und auf den Straßen Stille und Ruhe; von fünfzigtausend Stadtbewohnern nicht einer, der aufschreien und sich laut erregen würde. Wir sehen nur die, die auf den Markt gehen, um ihre Lebensmittel einzukaufen, die am Tage essen, in der Nacht schlafen, die all ihr dummes Zeug zusammenreden, sich verheiraten, alt werden und seelenruhig ihre Verstorbenen auf den Friedhof bringen; aber wir sehen und hören nichts von denen, die leiden, und das, was schrecklich am Leben ist, spielt sich irgendwo hinter den Kulissen ab. Alles geht still und ruhig vor sich, und nur die stumme Statistik protestiert: soundso viele sind wahnsinnig geworden, soundso viele Tonnen Schnaps wurden ausgetrunken, sounso viele Kinder kamen infolge Unterernährung um…“

[A.P. Tschechow – 1860-1904 in „Meistererzählungen“, unter dem Titel „Die Stachelbeeren“ nach der Übersetzung von Reinhold Trautmann, Leipzig, 1949, S. 308]

Hauptsache: Bedenken!

„Wir wollen gehört werden, denn wir reden als Warner, und immer ist die Stimme des Warners, wer es auch sei und wo sie auch immer erklinge, in ihrem Rechte.“

[Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 302]

v-erkennen

„Es gibt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, daß es »unmittelbare Gewißheiten« gebe, zum Beispiel »ich denke«, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauers war, »ich will«: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als »Ding an sich«, und weder von seiten des Subjekts, noch von seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Daß aber »unmittelbare Gewißheit«, ebenso wie »absolute Erkenntnis« und »Ding an sich«, eine contradictio in adjecto in sich schließt, werde ich hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen!“

[Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“, 1886]

Individualität und Dauer

„Man frage sich ehrlich, ob die Schwalbe des heurigen Frühlings eine ganz und gar andere, als die des ersten sei, und ob wirklich zwischen beiden das Wunder der Schöpfung aus Nichts sich Millionen Mal erneuert habe, um eben so oft absoluter Vernichtung in die Hände zu arbeiten.- Ich weiß wohl, daß, wenn ich Einen ernsthaft versicherte, die Katze, welche eben jetzt auf dem Hofe spielt, sei noch die selbe, welche dort vor dreihundert Jahren die nämlichen Sprünge und Schliche gemacht hat, er mich für toll halten würde; aber ich weiß auch, daß es sehr viel toller ist, zu glauben, die heutige Katze sei durch und durch und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihundert Jahren.“

[Arthur Schopenhauer in „Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich“ in „Die Welt als Wille und Vorstellung“, 3.Auflage von 1859]

frech

„So steigt der Mensch auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine Ängstlichkeit und seine schlotternden Knie hohnzulachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demut und Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste verhäßlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.“

[Friedrich Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“, 1878]

 

spernere se sperni: verachten, dass man verachtet wird.