Schlagwort-Archiv: Identität

das größte Opfer

“As a proof of the truth of their religion theologians – the Christians ones to a greater extent than the Jewish – adduced the constant readiness of the faithful to sacrifice their lives rather than renounce their faith. The modern historian is not called upon to judge the merits of such claims: the fact that two rival religions are both able to lay claim to the same proof would appear to invalidate the argument. Nevertheless, in any account of the objective historical process such as it is the historian’s task to render, the phenomenon of martyrdom must occupy a unique place. Martyrdom marks the highest manifestation in history of any religion. It is a sign that the individual identifies himself with the tenets of his religion to such a degree of consciousness that their renunciation would make life no longer worth living for him.
This alone would justify us in placing martyrdom in the same sociological category as other corresponding phenomena. For not only religious movements, but other social groups also, achieve a degree of loyalty which endows their adherents with a readiness to make the supreme sacrifice.”

[Jacob Katz in „Exlusiveness and Tolerance: Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times“. London, 1961, S. 82]

Der Feind

„Gegenbegriffe sind geeignet, die Selbstbestimmung einer Handlungseinheit, das „Wir“ gegen die anderen nicht nur zu artikulieren, sondern als Unterscheidungsmerkmal festzuschreiben. Dahinter lauert die Feindschaft. Die Barbaren, die stammelnden Fremden waren längst auf diesen Begriff gebracht wordn, bevor die Hellenen, unter diesem Namen zusammenfanden. Fremd- und Selbstbestimmung haben sich gegenseitig evoziert. […]
Was historisch je einmalig die Erfahrung prägte, wiederholte sich strukturell noch und noch. Die semantische Opposition zwischen Griechen und Barbaren wird mit neuen Namen besetzt – die Barbaren bleiben. Ob es die Normannen, die Ungarn, die Tataren, die Türken, die Indianer, die Russen oder die Deutschen sind, die Struktur der Gegenbegriffe ist übertragbar. […]
Die Gegenbegriffe verschärfen sich, und damit komme ich zu einem neuen Feindbegriff, seit der Einführung des Christentums. Der Nichtchrist verfällt der Verdammnis, nur der Christ hat Aussicht, vielleicht sogar die Gewißheit, dereinst vom Übel dieser Welt erlöst zu werden. Damit rücken die Zwangsalternativen in eine zeitliche Fluchtlinie. Es gibt die Noch-nicht-Christen: die Pagani, die Heiden, die Juden, aber auch die Hellenen wie die Barbaren zugleich, sie alle sind Adressaten der Mission. […]
Wer könnte verkennen, daß auch das verzeitlichte Oppositionspaar, einmal auf den Begriff gebracht, übertragbar ist. Die moderne Revolution zur Abschaffung aller Herrschaft und der neuzeitliche Krieg zur Beseitigung aller Kriege enthalten eine eschatologische Gewißheit des Heils, die allen weltlichen Selbstdeutungen zum Trotz ohne den christlichen Vorlauf nicht denkbar sind.
Aber unsere Neuzeit brachte noch eine weitere Radikalisierung der Feindbegriffe mit sich. Seitdem die Menschheit als autonome Letztinstanz an die Stelle Gottes trat, zum Subjekt und Objekt ihrer eigenen Geschichte erhoben wurde, rückte auch der Feind in neue Begriffsfelder ein.
Der Feind des Menschenn ist dann nicht der Mensch, sondern der Unmensch oder noch radikaler dem Übermenschen der Untermensch. Gewiß steht der Unmensch als Begriff schon der Stoa zur Verfügung, ein Tyrann sei als Unmensch zu beseitigen, er diente auch den Christen zur Stigmatisierung der Ketzer, und er sich selbst wohlgefällige Christ mochte schon als Übermensch  entlarvt werden.
Aber die Verwendung des Oppositionsbestimmungen: Mensch – Unmensch, Übermensch – Untermensch radikalisiert die Feindschaft in sprachlich zuvor gar nicht begreifbarer Weise. Der Barbar war noch natural oder territorial radizierbar, der Heide oder Ketzer war noch theologisch ausgrenzbar. Wer Hellene war oder Christ, ließ sich auch durch eine Selbstbestimmung identifizieren.  […] Und der Untermensch steht vollends im Belieben dessen, der sich per negationem des Anderen selber als Übermenschen etabliert. Es handelt sich also um ideolgoisch verschieden besetzte Leerformeln, in die hineindefiniert zu werden dem Anderen die letzte Chance raubt, auch nur ein Feind zu sein. Er wird unter die Schwundstufe menschlicher Möglichkeiten gedrückt, im wörtlichen Sinn entmenschlicht, zur potentiellen Nichtexistenz, >lebensunwert< und so vertilgt.“

[Reinhard Koseleck, „Begriffsgeschichten. Studium zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache“, Frankfurt/Main, 2006, S. 276-279]

fremd und selbst

„Selbst- und Fremdbezeichnungen gehören zum täglichen Umgang der Menschen. In ihnen artikuliert sich die Identität einer Person und ihre Beziehungen zu anderen Personen. Dabei kann im Gebrauch der Ausdrücke Übereinstimmung herrschen, oder jeder verwendet für sein Gegenüber einen anderen Ausdruck, als dieser für sich selbst benutzt. So ist es ein Unterschied, ob gegenseitig anerkannte Namen – Hans und Liese – ausgesprochen werden oder ob sie durch Schimpfnamen verdrängt werden. […] Im einen Fall stimmen die Selbst. bzw. Fremdbezeichnungen der jeweiligen Personen überein, im anderen Fall treten Selbst- und Fremdbezeichnung derselben Person auseinander. Im einen Fall ist die gegenseitige Anerkennung sprachlich impliziert, im anderen fließt eine abschätzige Bedeutung in die Bezeichnung ein, so dass die Gegenseite sich wohl angesprochen, aber nicht anerkannt finden kann.“

[Reinhard Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymetrischer Gegenbegriffe in „Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten“, Frankfurt/M., 1979, S. 211]

Gesichter wie irgendwer

“ ‚Rien n’arrive ni comme on l’espère, ni comme on le craint‘, heißt es an einer Stelle bei Proust. Nichts ereignet sich in der Tat so, wie wir es erhoffen, noch so, wie wir es befürchten. Aber nicht darum, weil etwa, wie man so sagt, das Geschehnis „die Vorstellungskraft übersteige“ (es ist keine quantitative Frage), sondern weil es Wirklichkeit ist und nicht Imagination. Man kann ein Leben daran wenden, das Eingebildete und das Wirkliche gegeneinanderzuhalten, und wird dennoch niemals damit zu Rande kommen. Vieles geschieht ja in der Tat ungefähr so, wie man es vorstellend vorwegnahm. Gestapomänner in Ledermänteln, den Lauf der Pistole auf ihr Opfer gezielt, damit hat es schon seine Richtigkeit. Aber dann eröffnet sich fast verblüffend die Einsicht, daß die Kerle nicht nur Ledermäntel und Pistolen haben, sondern auch Gesichter: keine „Gestapogesichter“ mit verdrehten Nasen, hypertrophierten Kinnpartien, Pocken- oder Messerstichnarben, wie sie im Buche stehen könnten.
Vielmehr: Gesichter wie irgendwer. Dutzendgesichter. Und die ungeheure, wider jede abstrahierende Vortellung zertörende Erkenntnis eines späteren Stadiums macht uns deutlich, wie die Dutzendgesichter dann schließlich doch zu Gestapogesichtern werden und wie das Böse die Banalität überlagert und überhöht. Es gibt nämlich keine „Banalität des Bösen“; und Hannah Arendt, die in ihrem Eichmann-Buch davon schrieb, kannte den Menschenfeind nur vom Hörensagen und sah ihn nur durch den gläsernen Käfig.
Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde Einbildungskraft.“

[Jean Améry in „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, im Kapitel „Die Tortur“, S. 57/58]

Gegensätze als Tragik des menschlichen Lebens

«In der Zeit der Übergänge, in denen die neuen Gedanken mit den alten in Streit lagen, hatte ich manchmal das Gefühl einer Art von Verrat an meinen liberalen Freunden, das um so schmerzhafter war, als sie mir im persönlichen Umgang immer die gemäßesten – also auch die liebsten – blieben. Heute habe ich dieses Gefühl des Zwiespalts nicht mehr. Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem (der Mutter, dem Vater, der eigenen Generation) zu seiner Stunde sein Recht zu gewähren. Der Preis dafür ist, dass ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, dass wir im Ausharren in der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand zu überwinden ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten, einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.»

[Margret Boveri in "Der Verrat im 20. Jahrhundert." Das Standardwerk in einer Gesamtausgabe, Hamburg, 1976, S. 777]

 

Wert statt Präsenz: die Welt auf dem Kopf

„…mit der Ersetzung der Rede durch die Schrift tritt zugleich der Wert an die Stelle der Präsenz. Dem auf diese Weise preisgegebenen ich bin oder ich bin anwesend wird ein was ich bin oder was ich gelte vorgezogen. ‚Wäre ich anwesend, hätte man nie in Erfahrung bringen können, was ich gelte.‘ [Zitat von Jean-Jacques Rousseau aus dessen „Confessiones“] Ich verzichte auf mein gegenwärtiges Leben, auf meine tatsächliche und konkrete Existenz, um in der Idealität der Wahrheit und des Wertes anerkannt zu werden. Ein hinreichend vertrautes Schema. Der Krieg findet in mir statt, durch ihn will ich mich über mein Leben erheben, immer über ihm wachend, um mich der Anerkennung zu erfreuen, während die Schrift die besondere Erscheinungsform dieses Krieges ist.

[…]

Daß das Zeichen, das Bild oder der Repräsentant zu Kräften werden, mit deren Hilfen ‚die Welt in Bewegung gesetzt‘ wird, das ist der Skandal.

Dieser Skandal und die durch ihn hervorgerufenen Schäden sind zuweilen so irreparabel, daß die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint…“

[Jacques Derrida in „Grammatologie“ (1967), Frankfurt am Main. 1996, S. 244 und S. 254]

 

 

 

 

 

 

 

Faszination: Denkkollektiv

„Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozess eines theoretischen ‚Bewußtseins überhaupt‘; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. … Der Satz ‚jemand erkennt etwas‘ verlangt [ ] einen Zusatz z.B: ‚auf Grund des bestimmten Erkenntnisbestandes‘ oder besser ‚als Mitglied eines bestimmten Kulturmilieus‘ oder am besten ‚in einem bestimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv‘. […]

Obwohl das Denkkollektiv aus Individuen besteht, ist es nicht deren einfache Summe. Das Individuum hat nie, oder fast nie das Bewußtsein des kollektiven Denkstiles, der fast immer einen unbedingten Zwang auf sein Denken ausübt und gegen den ein Widerspruch einfach undenkbar ist. […]

Das Erkennen stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen. Schon in dem Aufbau der Sprache liegte eine zwingende Philosophie der Gemeinschaft, schon im einzelnen Worte sind verwickelte Theorien gegeben. Wessen Philosophien, wessen Theorien sind das?

Gedanken kreisen von Individuum zum Individuum, jedesmal etwas umgeformt, denn andere Individuen knüpfen andere Assoziationen an sie an. Streng genommen versteht der Empfänger den Gedanken nie vollkommen in dieser Weise, wie ihn der Sender verstanden haben wollte. Nach einer Reihe solcher Wanderungen ist praktisch nichts mehr vom ursprünglichen Inhalte vorhanden. Wessen Gedanke ist es, der weiter kreist? Ein Kollekitvgedanke eben, einer, der keinem Individuum angehört. Ob Erkenntnisse vom individuellen Standpunkte Wahrheit oder Irrtum, ob sie richtig oder mißverstanden scheinen, sie wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten.“

[Ludwik Fleck in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, Frankfurt/M. 1980, S. 54, 56 und 58]