Archiv der Kategorie: 19. Jahrhundert

Angst vor Konvention

„Ich will nur geradezu von uns Deutschen der Gegenwart reden, die wir mehr als ein anderes Volk an jener Schwäche der Persönlichkeit und an dem Widerspruche von Inhalt und Form zu leiden haben. Die Form gilt uns Deutschen gemeinhin als eine Konvention, als Verkleidung und Verstellung und wird deshalb, wenn nicht gehaßt, so doch jedenfalls nicht geliebt; noch richtiger würde es sein, zu sagen, daß wir eine außerordentliche Angst vor dem Worte Konvention und auch wohl vor der Sache Konvention haben. […] Ein Kleidungsstück, dessen Erfindung kein Kopfzerbrechen macht, dessen Anlegung keine Zeit kostet, also ein aus der Fremde entlehntes und möglichst läßlich nachgemachtes Kleidungsstück, gilt bei den Deutschen sofort als ein Beitrag zur deutschen Tracht. Der Formensinn wird von ihnen gerade zu ironisch abgelehnt – denn man hat ja den Sinn des Inhaltes: sind sie doch das berühmte Volk der Innerlichkeit.

Nun gibt es aber auch eine berühmte Gefahr dieser Innerlichkeit: der Inhalt selbst, von dem es angenommen ist, daß er außen gar nicht gesehen werden kann, möchte sich gelegentlich einmal verflüchtigen; außen würde man aber weder davon noch von dem früheren Vorhandensein etwas merken. Aber denke man sich immerhin das deutsche Volk möglichst weit von dieser Gefahr entfernt: etwas recht wird der Ausländer immer behalten, wenn er uns vorwirft, daß unser Inneres zu schwach und ungeordnet ist, um nach außen zu wirken und sich eine Form zu geben. Dabei kann es sich in seltenem Grade zart empfänglich, ernst, mächtig, innig, gut erweisen und vielleicht selbst reicher als das Innere anderer Völker sein: aber als Ganzes bleibt es schwach, weil alle die schönen Fasern nicht in einen kräftigen Knoten geschlungen sind: so daß die sichtbare Tat nicht die Gesamttat und Selbstoffenbarung dieses Inneren ist, sondern nur ein schwächlicher oder roher Versuch irgendeiner Faser, zum Schein einmal für das Ganze gelten zu wollen. Deshalb ist der Deutsche nach einer Handlung gar nicht zu beurteilen und als Individuum auch nach dieser Tat noch völlig verborgen. Man muß ihn bekanntlich nach seinen Gedanken und Gefühlen messen, und die spricht er jetzt in seinen Büchern aus.Wenn nur nicht gerade diese Bücher neuerdings mehr als je einen Zweifel darüber erweckten, ob die berühmte Innerlichkeit wirklich noch in ihrem unzugänglichen Tempelchen sitze: es wäre ein schrecklicher Gedanke, daß sie eines Tages verschwunden sei und nun nur noch die Äußerlichkeit, jene hochmütig täppische und demütig bummelige Äußerlichkeit als Kennzeichen des Deutschen zurückbliebe.“

[Friedrich Nietzsche in „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, Leipzig, 1874]

 

Wozu Vorurteile gut sind

„Sowie niemand physisch bestehen könnte, wenn er die Blutbewegung, die Atmung, die Verdauung seines Körpers durch willkürliche, vorbedachte Handlungen einleiten und instande halten müßte, so könnte auch niemand intellektuell bestehen, wenn er genötigt wäre, alles was ihm vorkommt zu beurteilen, anstatt sich vielfach durch sein Vorurteil leiten zu lassen. Das Vorurteil ist eine Art Reflexbewegung im Gebiete der Intelligenz. Auf Vorurteilen, d.h. auf nicht jedesmal auf ihre Anwendbarkeit geprüften Gewohnheitsurteilen, beruht ein guter Teil der Überlegungen und Handgriffe des Naturforschers, auf Vorurteilen beruht die Mehrzahl der Handlungen der Gesellschaft. Mit dem plötzlichen Erlöschen aller Vorurteile würde sie selbst sich ratlos auflösen.“

[Ernst Mach, Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken, in seiner Rektoratsantrittsrede an der Deutschen Universität in Prag, 1883]

?sicherheit¿

„Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, dass die ganze Gesellschaft nur das ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren. […]

Durch den Begriff der Sicherheit hebt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht über ihren Egoismus. Die Sicherheit ist vielmehr die Versicherung ihres Egoismus.

Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.

[Karl Marx in „Zur Judenfrage“, 1843]

Literarische Schönheit

„Doch nun senkt sich bereits das Abenddunkel auf die Stadt. Das bleiche Laternenlicht macht lebhaften Farben Platz, und auf den Straßen wird das Getriebe lärmender.   …

Jonas Augen eilen unruhig und gequält über die Menschenmenge hin, die zu beiden Seiten der Straße vorüber hastet: ist unter all den Tausenden nicht ein einziger, der ihn anhören möchte? Doch die Menschen eilen dahin und bemerken ihn und seinen Kummer nicht… Sein Kummer aber ist riesengroß und grenzenlos. Würde plötzlich Jonas Brust zerreißen und der Kummer aus ihr ausströmen, so würde er wohl die ganze Welt überschwemmen – aber dennoch sieht man ihn nicht.“

[A.P.Tschechow 1860 -1904 in „Meistererzählungen“, aus dem Russischen von Reinholt Trautmann]

i.c.h.

„We commonly do not remember that it is, after all, always the first person that is speaking. I should not talk so much about myself if there were any body else whom I knew as well. Unfortunately, I am confined to this theme by the narrowness of my experience.“

[Henry David Thoreau in „Walden; or, life in the woods“, 1854]

 

 

wesentlich leben

„Manchmal möchte ich zu einer beschwerlichen, ernstzunehmenden Wanderung aufbrechen, ein wesentlicheres Leben führen, eine tiefe Erfahrung machen, mich bei Hitze und Kälte, Tag und Nacht im Freien aufhalten; mehr leben, mehr Luft verbrauchen, mich ermüden.

Doch dann stellt sich rasch der Gedanke ein: Schweife nicht so weit ab von deinen Wegen um eines echteren Lebens willen, sondern halte dich an den Pfad, den dein Genius dir weist. Tu die Dinge, die dir am nächsten liegen, aber schwierig sind. Lebe ein ursprünglicheres, bewussteres und mühevolleres Leben, sei wahrhaftiger zu deinen Freunden und Nachbarn, sei nachsichtiger und großzügiger.

Das wäre besser als ein stürmischer Aufbruch.“

[Aus den Tagebüchern Henry David Thoreaus, 1817-1862, übersetzt und herausgegeben von Susanne Schaup]

Wahrheit contra Zeitgeist

„Für die philosophische Wahrheit, wie im Grunde für jede andere giebt es äußerlich nur Ein Criterium: die allgemeine Einstimmung, die Evidenz, mit der sie Jeden zwingt zu ihrer Anerkennung, welcher sie, bei angemessener Vorbildung, unpartheiisch prüfend in sich nachkonstruirt. Es kommt also nur darauf an, eine allgemeine unpartheiische Prüfung für eine neue Lehre zu erhalten: und wir werden eines vollgültigen Urtheils über dieselbe gewiß sein können.

Freilich wird hiezu die Bestimmung der denkenden Köpfe einer bestimmten Zeit, eines einzelnen Volkes noch nicht genügen: denn in Folge besonderer Conjunkturen kann eine falsche Gedankenverknüpfung für einen gewissen Zeitraum so aller Geister sich bemächtigt haben, daß sie jeden Versuch zu ihrer Prüfung sogleich herrisch unterdrückt;…“

[Friedrich Eduard Beneke in „Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit. Eine Jubeldenkschrift auf die Kritik der reinen Vernunft“, 1832]

Mich verwundert (und erschreckt zum Teil) wie im aufgeklärten 19. Jahrhundert Menschen abgebügelt wurden, die sich gedanklich auf neue Wege fern des Mainstreams begaben. Beeindruckend wie idealistisch dabei Friedrich Eduard Beneke blieb. Er meinte auch mal „niemand steht so niedrig, daß ich nicht gern von ihm lernen möchte“. Das erinnert an einen schönen Satz aus dem Talmud: „Wer ist weise? Der von allen Menschen lernt.“